Beim Aufräumen nach der Geburtstagsfeier bin ich dann auch mal zum Geschenke auspacken gekommen und dieses unscheibare Buch war dabei. Annie wer? Rückentext gelesen, hm, klingt jetzt nur semi-spannend. Ich les erstmal die Schachnovelle und leg das mal auf den Haufen zu den anderen noch zu lesenden. Naja gut, paar Tage später war es dann dran und dieses Buch ist der Hammer, vor Hammett und Otremba mein Buch des Jahres.
Annie Ernaux ist 1940 in der französichen Provinz geboren, später Zeit in Paris verbracht, geheiratet, Kinder, als Lehrerin gearbeitet, absolut unspektakuläres Leben und das Buch ist mehr oder weniger eine Autobiographie. Kein Lebensbericht von einer bekannten Schauspielerin, Schriftstellerin, Sportlerin oder sonst irgendwie bekannten Person, sondern eine Erzählung des Lebenswegs einer Person aus der Mitte der Gesellschaft. (kleine Bemerkung nebenbei: Annie Ernaux ist natürlich schon bekannt und als Schriftstellerin angesehen, vor allem in Frankreich kann man mit dem Namen was anfangen.) Da enstand bei mir beim Lesen eine gewisse Verbundenheit, vieles was sie schreibt kann man nachvollziehen und es könnten abstrakt gesehen auch Gedanken, Erfahrungen aus meinem Umkreis sein.
Inhaltlich schreibt sie viel über ihre Gedanken zum Lauf der Welt, dazu noch Emotionales und sie nimmt den leser dabei immer wieder kurz an die Hand in welchem jahr er sich befindet und was mit ihr zu dem Zeitpunkt los war. Im Großen und Ganzen ist es ein politisches Buch, eine soziologische Analyse der Gesellschaft aus linksintellektueller Sicht, dabei niemals plakativ oder anklagend, aber trotzdem natürlich kritisch mit der Weltentwicklung ins Gericht gehend. Mir kam beim Lesen mehrmals die Parallele zu Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (auch ein sehr gutes Buch) auf, thematisch gibts da viel Schnittmenge, aber Eribon ist halt Soziologe und deshalb teilweise sehr zäh zu lesen. Ernaux hat einen so schnörkellosen, dabei präzisen, leicht poetischen, aber keinen abgeschwurbelten Schreibstil – es ist eine Pracht.
Thematisch haben mir ihre Berichte über die 90er am besten gefallen, Niedergang der Sozialdemokratie, Technologiesierung, Durchkapitalisierung der Welt. Alles auch meine Themen und eigentlich würd ich alles teilen was sie schreibt. Aber auch ihre Berichte aus den 60ern und 70ern sind schwer interessant, diese Zeiten haben für mich immer so etwas mythisches, Zerstörung von verkrusteten weltkriegsprovozierenden Strukturen durch linke Studenten, durch friedliebende Menschen (fällt mir grad Hunter S. Thompson ein der über die Hippebewegung in den USA geschrieben hat) die den Moment der Geschichte einfach auf ihrer Seite hatte.
Und noch etwas hat das Buch in mir wiedererweckt: das Bedürfnis mit meinen Großeltern zu reden und das Ganze auch irgendwie aufzuzeichnen. Geschichte kann man sich aus Büchern oder Wikipedia zusammenreimen, erleben muss man sie selber und Menschen aus anderen Generationen haben sie erlebt und können darüber berichten. Meine Großeltern sind alle Mitte ’30 geboren und mich interesiert schon wie das damals gewesen ist, mit dem ende des Krieges, mit den Russen, der DDR, der Wiedervereinigung und wie sich die Transition nach der Wende für sie angefühlt hat. Zeitzeugenberichte sind schwer zu ersetzen und Fakt ist, daß sie irgendwann nicht mehr live erfahrbar sind.
Also kurzum, das Buch triggert in mir einiges an den genau richtigen Stellen, inhaltlich top, von Anspruch her ausgezeichnet, sprachlich ganz groß, inspirativ, bzw hinterfragt man sich auch selbst gern mal beim Lesen, es hat keinen Durchhänger, lässt einen emotional bischen kalt aber den Anspruch würde ich an kein Sachbuch anlegen. Ich bin begeistert von diesem Buch.